Weiterbauen...
Norbert Mendgen

Alle haben es schon gemacht: weitergebaut; zum Beispiel, wenn Bestehendes - Altbauten oder auch städtebauliche Ensembles - an aktuelle Erfordernisse oder Moden durch eine "Modernisierung" angepasst oder weiterentwickelt werden sollen. Meistens sind es neue funktionale Anforderungen, die an den Bestand gestellt werden, zum Beispiel eine Verbesserung seiner Wirtschaftlichkeit.

Eingriffe zur Erneuerung, besonders bei einer Überformung durch eine geänderte Funktion, bedeuten zwangsläufig Zerstörungen am Bestand. Veränderungen am Bestand, auch gravierende Veränderungen, sind aber auch Teil der Baugeschichte, wie dies an vielen Baudenkmälern belegt werden kann. Die zentrale Frage für Bauherr wie Planer war immer die nach dem Ziel und dem Anspruch. Wie viel Veränderung ist gewollt, wie wichtig ist die Geschichte, und wie hoch ist der Qualitätsanspruch?

Der Begriff "Weiterbauen" soll hier stehen für die Erhaltung der Qualität des Vorhandenen und Bewährten auf der historischen Erfahrungsgrundlage, ergänzt (weitergebaut) um neue Erkenntnisse.

Viele alltägliche Altbauten und städtebauliche Ensembles weisen Qualitäten atmosphärischer, handwerklicher oder auch räumlicher Art auf, die sich bei der Planung und Umsetzung eines Neubaus wohl kaum realisieren lassen. Die Auseinandersetzung mit dem Bestand und seiner Geschichte führt zu einer Vertiefung der Kenntnisse und im Idealfall zu einer anderen, differenzierteren Definition architektonischer Qualität, wie sie auf der sprichwörtlichen grünen Wiese, wenn überhaupt, nur mit entwurfstechnischer Artistik zu erreichen ist. Man kann also durchaus auf die Erfahrungen der Baugeschichte zurückgreifen und in diesem Sinne qualitätvoll (weiter-) bauen, ohne gleich zum Eklektiker zu werden.

Ziel dieser Auseinandersetzung mit dem Bestand ist der "Mehrwert", das heißt die Erhaltung der soeben beschriebenen Werte des Altbaus. Ziel ist aber auch ein additives Weiterbauen, so dass das Neue, das zum Bestehenden dazukommt, als solches, als neue Entwicklung in der aktuellen Architektur und Technik erkennbar wird.

Dies setzt einen komplexen Planungsprozess voraus, in dessen Verlauf die vorhandene Bausubstanz als Ganzes wie im Detail erfasst wird und ihre Werte definiert, die Erhaltungs- und die Entwicklungsziele entworfen und gegen das kritisch evaluierte Zerstörungspotenzial des Eingriffes abgewogen werden. Das Erkennen und die Würdigung der erhaltenswerten Qualitäten ist von zentraler Bedeutung für den Umbau, ebenso wie für das Weiterbauen. (Denn, was der Planer nicht kennt, das kann er auch nicht berücksichtigen.)

Die Zerstörung eines wertvollen Bereichs oder Details hat nicht nur Einfluss auf die Gestaltung des Ganzen, sondern auch auf die entstehenden Kosten. Nicht selten haben historische Details einen hohen materiellen Wert, abgesehen davon, dass sie in vielen Fällen nicht mehr reproduzierbar sind. Während bewegliche Kunstgegenstände, wie zum Beispiel ein alter Bauernschrank, als Kunstwerte an sich anerkannt sind, sind nicht bewegliche, historische Ausstattungsdetails eines alten Gebäudes, wie zum Beispiel eine Tür oder ein Fenster, immer noch nicht als vergleichbar wertvoll akzeptiert.

Den größten Einfluss auf notwendige Zerstörungen hat in der Regel der Grad der Nutzungsänderung, weshalb extrem monofunktionale Anlagen, wie zum Beispiel die der Industriegeschichte, bei einer Neunutzung dem größten Veränderungsdruck ausgesetzt sind. Extreme Nutzungsänderungen erfordern deshalb den größten Planungsaufwand. Hier sollte neben der Verträglichkeit der Neunutzung auch der Störungs- und Zerstörungsgrad untersucht und bewertet werden, die diese mit sich bringt - was aber in der Regel nicht erfolgt. Natürlich sollten darüber hinaus auch die mit einer Zerstörung zusammenhängenden Kosten und Folgekosten stärker gewürdigt werden.

Beim Baudenkmal werden die funktionellen und architektonischen Ansätze von den konservatorischen überlagert. Die Perspektiven des Architekten werden hier durch die bisweilen entgegengesetzte Optik des Denkmalpflegers als Anwalt des geschichtlichen Dokumentes ergänzt. Während der Planer im Alten mit seinem in die Zukunft gerichteten Blick im Wesentlichen das Gegenwärtige erkennt, sieht der Denkmalpfleger darin das erhaltenswerte Zeugnis der Vergangenheit.

Dieses Phänomen, dass Planer und Denkmalpfleger im Allgemeinen nicht kooperativ arbeiten, hat seine eigene Geschichte in der Moderne, und sie ist folgenreich. Das bedeutet hier die Fixierung auf das Neue, das in diesem Fall auch ein runderneuertes Denkmal sein kann, dort die Fixierung auf das überrestaurierte, vom Leben isolierte oder für einen Wunschtraum von Geschichte missbrauchte Monument. Eine Auseinandersetzung über die historische Wahrheit (Denkmalpflege) einerseits und die ästhetische Wahrheit (Architektur) andererseits kann hier nur befruchtend wirken.

Nach den Grabenkämpfen der Moderne und der Relativierung - oder Zurückdrängung der Denkmalpflege - in den letzten Jahren haben die Architekten die Chance, der Geschichte des Bauens mehr Bedeutung zuzuteilen und ein komplexeres Verhältnis zur Gegenwart zu entwickeln, und damit können wir heute "die neue Freiheit" mit dem Ziel erproben, nicht nur das Neue zu entwickeln, sondern auch das Alte weiterzubauen.
Quelle: MANUSkipt - Axel Müller-Schöll, Basel · Boston · Berlin 2007, S. 204/205

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